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14. April 2020
IDD-Check 2020: Beratungsverzicht auf dem Prüfstand

IDD-Check 2020: Beratungsverzicht auf dem Prüfstand

Der Kunde kann „auf Beratung oder Dokumentation verzichten“. Dieser Passus wird von Vermittlern gerne angewandt. Was aber bedeutet diese Vorschrift wirklich? Angesichts der im Jahr 2020 umzusetzenden Überprüfung der IDD durch die EU-Kommission schärft Rechtsanwalt Dr. Maximilian Teichler, Inhaber der Kanzlei für Versicherungsmanagement, den Blick auf die Beratungs- und Dokumentationspflichten für Vermittler.

Der deutsche Gesetzgeber wollte 2008, als das reformierte VVG in Kraft trat, mehr für den Versicherungsnehmer tun, als es die ursprüngliche EU-Vermittlerrichtlinie IMD verlangte. Diese sah „nur“ vor, dass die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden erfragt werden mussten. Das deutsche VVG sah und sieht in §§ 6 und 61 jedoch vor, den Kunden zu befragen und zu beraten.

Seit 2018 gilt die neue Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD). Artikel 20 ist überschrieben mit „Beratung sowie Standards für den Vertrieb ohne Beratung“ und listet im ersten Absatz drei, eigentlich vier Verpflichtungen des Versicherungsvertreibers auf:

  • Er muss die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden erfragen.
  • Er muss dem Kunden eine objektive Information über das Versicherungsprodukt geben (beide im Unterabsatz 1).
  • Das aus diesen Pflichten sich ergebende Angebot des Versicherungsvertreibers muss den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entsprechen (Unterabsatz 2).
  • „Erfolgt vor Abschluss eines … Vertrages eine Beratung“, so erteilt der Vertreiber dem Kunden eine persönliche Empfehlung (Unterabsatz 3).

Der Kunde muss also auch nach den Regeln der IDD nicht unbedingt beraten werden. Wenn er aber beraten wird, muss er eine persönliche Empfehlung erhalten. Das VVG ist in §§ 6, 61 nicht verändert worden. Der deutsche Versicherungsvertreiber muss also weiterhin eine doppelte Pflicht erfüllen: Er muss die Wünsche und Bedürfnisse seines Kunden erfragen und ihn beraten.

Wirkt nun der Verzicht des Kunden auf Beratung auch auf das Erfragen der Wünsche und Bedürfnisse? Die Antwort ist leider: Nein. Auf die Ermittlung der Wünsche und Bedürfnisse kann der Kunde nicht verzichten, denn die Verpflichtung dazu steht in der IDD, die als europäisches Recht dem deutschen Recht vorgeht bzw. eine entsprechende Interpretation des deutschen Rechts vorgibt.

Der Unterschied zwischen „Befragen“ und „Beraten“

Im deutschen VVG ist Beratung nicht definiert. Stattdessen werden Voraussetzungen dargestellt, unter denen Fragen zu stellen sind („anlassbezogen“) und wie der Kunde beraten wird („angemessen“). In der IDD bezeichnet der Ausdruck Beratung „die Abgabe einer persönlichen Empfehlung an einen Kunden, entweder auf dessen Wunsch oder auf Initiative des Versicherungsvertreibers hinsichtlich eines oder mehrerer Versicherungsverträge“ (Art. 2 Nr. 15 IDD).

Der von der IDD vorgegebene Prozess ist wie folgt: Der Versicherungsvertreiber ermittelt die (subjektiven) Wünsche und (objektiven) Bedürfnisse. Der Versicherungsvertreiber muss also die Wünsche des Kunden nach Absicherung verstehen und mit den objektiven Gegebenheiten des Kunden in Übereinstimmung bringen. Sodann muss er ein geeignetes Versicherungsprodukt anbieten, über welches er dem Kunden eine objektive Information zukommen lässt. Dieses Angebot muss Wünschen und Bedürfnissen des Kunden entsprechen. Das ist der verpflichtende Teil des Vertriebs-Prozesses nach Artikel 20 der IDD. Er ist relativ problemlos mit dem Wortlaut des VVG in Übereinstimmung zu bringen.

„Beratung“ geht darüber hinaus. Sie mündet in „eine persönliche Empfehlung an den Kunden, in welcher erläutert wird, warum ein bestimmtes Produkt den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden am besten entspricht“ (Art. 20 Abs. 1 dritter Unterabsatz IDD). Man kann es auch so formulieren: Die ermittelten Wünsche und Bedürfnisse sind die Grundlage für die Beratung.

Es gibt in der IDD also einen verpflichtenden Teil (Ermitteln der Wünsche und Bedürfnisse plus objektive Information über das Versicherungsprodukt) und einen Teil, den der Versicherungsvertreiber vernachlässigen darf (die Beratung mit persönlicher Empfehlung). Auf den verpflichtenden Teil kann der Kunde nicht verzichten, auf den „freiwilligen“ Teil schon.

Wünsche und Bedürfnisse im Online-Vertrieb abfragen

Online-Abschlüsse müssen einfach und vor allem schnell sein. Umso eher ist mancher Versicherungsvertreiber bereit, den Kunden einen Verzicht auf Beratung unterschreiben zu lassen und dann auf alle Fragen zu verzichten. Seit 2018 kann der Verzicht im Online-Vertrieb auch in Textform (also per Mail und ohne Unterschrift) gegeben werden. Aber: Kein Kunde kann auf etwas verzichten, was das europäische Recht als verpflichtend vorschreibt. Andererseits zählt das europäische Recht Beratung nicht zum verpflichtenden Teil, das VVG aber schon.

Die Schwierigkeit liegt also darin, die Vorgaben des europäischen Rechts mit denen des deutschen Rechts in Übereinstimmung zu bringen: Die Abfrage der Wünsche und Bedürfnisse muss immer erfolgen. Sie erfordert im Online-Vertrieb nur wenige Fragen. Die eingesetzten Algorithmen sind nicht besonders kompliziert und können Alternativfragen bzw. deren Antworten gut verknüpfen. Die Ermittlung der Wünsche und Bedürfnisse ist also auch im Online-Vertrieb machbar.

Beratung im Online-Vertrieb

Nach deutschem Recht muss jetzt eine Beratung erfolgen. Dabei muss der Beratungsaufwand lediglich angemessen sein. Online-Vertriebe vermitteln häufig „einfache“ Deckungen (z. B. Auslandsreise-Krankenversicherung durch einen Automaten am Flughafen). Der Aufwand für die Beratung darf in solchen Fällen gering ausfallen. Aber der Kunde muss, wenn er schon beraten wird, eine persönliche Empfehlung des Versicherungsvertreibers erhalten, in der erläutert wird, warum (gerade) dieses Versicherungsprodukt seinen Wünschen und Bedürfnissen am besten entspricht. Das ist wieder europäisches Recht, weniger darf man dem Kunden nicht geben (wenn man ihn schon berät). Eine solche Empfehlung wird der Automat am Flughafen im Zweifel aber nicht geben können. Die mit einer persönlichen Empfehlung zu verknüpfende Beratung ist im Online-Vertrieb also eher schwierig umzusetzen.

Verzicht nur auf weitergehende Beratung

Also kommt jetzt der Beratungsverzicht ins Spiel: Nachdem Wünsche und Bedürfnisse erfragt wurden und der Kunde eine objektive Information über das Versicherungsprodukt erhalten hat, kann ihn der Versicherungsvertreiber fragen, ob er auf eine weitergehende Beratung verzichtet. Wenn der Online-Kunde das tut – im gewählten Beispiel der Auslandsreise-KV am Automaten im Flughafen sehr wahrscheinlich –, darf der Versicherungsvertreiber ihm eine seinen Wünschen und Bedürfnissen entsprechende Police vermitteln. Das ist europäisches Recht („Standard für den Vertrieb ohne Beratung“) und deutsches Recht (Beratungsverzicht).

Schwierig ist dann „nur noch“ die geforderte Form: Auch im Online-Vertrieb („Fernabsatz“) soll der Verzicht in einer gesonderten Erklärung gegeben werden. Man wird sehen, wie die Gerichte diesen Passus auslegen werden.

Fazit: Verzicht ist nicht gleich Verzicht

Auf die Ermittlung der Wünsche und Bedürfnisse und die objektive Information über das Versicherungsprodukt kann niemals verzichtet werden. Der Versicherungsvertreiber muss diese immer erfragen. Er muss immer eine objektive Information über das Versicherungsprodukt geben. Er muss nicht beraten: Nach deutschem Recht ist hierzu jedoch ein Beratungsverzicht des Kunden erforderlich. Wenn der Versicherungsvertreiber aber berät, muss er eine persönliche Empfehlung abgeben.

Bild: © Eigens – stock.adobe.com

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 04/2020, Seite 108 f., und in unserem ePaper.

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Ein Artikel von
Dr. Maximilian Teichler