Agentic Automation ist das Schlagwort der Stunde. KI-Mitarbeiter analysieren Schadenfotos, Phone-Bots nehmen tausende Anrufe entgegen und KI-Assistenten helfen bei Meetings oder Recherchen. Doch trotz erster Erfolge macht sich Ernüchterung breit. Die Frage lautet: Wo bleiben die vollautomatischen Prozesse, die das Geschäft von Grund auf verändern?
Das Problem ist selten der Veränderungswille oder der Algorithmus, sondern eine tiefere Hürde: Besonders die heutigen generativen KI-Systeme glänzen bei Aufgaben, die sie mit ihrem riesigen globalen Kontext – dem Wissen des gesamten Internets – lösen können. Doch was passiert, wenn dieses universelle Wissen auf die spezifischen Realitäten des Unternehmensalltags trifft
Zwischen Hype und Handarbeit: Hürden der KI-Integration
Bekannte Faktoren verlangsamen die Entwicklung: Komplexe Regulatorik rund um den EU AI Act und die DSGVO erfordert sorgfältige Prüfung. Gerade wenn zentrale Prozesse als Hochrisikoanwendung eingestuft werden, wird die Compliance zur strategischen Kernaufgabe. Auch das notwendige Mitarbeiter-Enablement und die Etablierung eines digitalen Mindsets brauchen Zeit und Engagement. Doch die Achillesferse für den wirtschaftlichen Erfolg ist die tiefe, nahtlose Integration der KI in die Unternehmensrealität. Zur Veranschaulichung dient das Bild einer neuen Mitarbeiterin: Trotz all ihrer beeindruckenden Fähigkeiten fehlt ihr der entscheidende Unternehmenskontext: Sie kennt weder Ihre Produkte noch Ihre Firmenkultur. Um wirklich zu helfen, muss sie drei entscheidende Integrationshürden überwinden.
1. Die Datenintegration: Das Fundament aus Wissen
Jedes KI-System ist nur so gut wie die Daten, auf denen es basiert. Doch hier zeigt sich eine fundamentale Kluft in der Unternehmensrealität. Generative KI-Modelle müssen mit spezifischem Firmenwissen „geerdet“ werden, sonst versagen sie an den Realitäten einer Police. Klassische KI-Modelle, die von Grund auf mit internen Daten gebaut werden, scheitern sogar noch früher, wenn diese Daten unsauber oder unvollständig sind. Das Ergebnis ist dasselbe: Ohne gepflegte Datenplattformen gibt es keine intelligente Anwendung. Für Versicherer bedeutet das: Ohne harmonisierte, domänenspezifische Datenbasis bleibt jedes KI-Projekt ein Einzelfall.
2. Die Prozessintegration: Der Fremdkörper im System
Ohne tiefe Integration in die Kernprozesse bleibt selbst die beste KI eine Insellösung. Die größte technische Herausforderung ist die Anbindung an bestehende, oft veraltete IT-Architekturen. Solange die KI ein Fremdkörper im System bleibt, anstatt Prozesse von der Antragsprüfung bis zur Schadenregulierung durchgängig zu unterstützen, wird ihr Potenzial für eine echte Hyperautomation nie ausgeschöpft. Hier entscheidet sich, ob KI Effizienzgewinne liefert oder lediglich zusätzliche Komplexität erzeugt.
3. Die Mensch-Maschine-Integration: Die lückenhafte Übergabe
Die anspruchsvollste Hürde ist die nahtlose Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Denn die heutige KI hat eine fundamentale Schwäche: Sie kann kaum im laufenden Betrieb dazulernen und den sich ständig ändernden, situativen Kontext einer Aufgabe erfassen. Sie weiß nicht, was „neulich in der E-Mail“ besprochen wurde. Genau aus diesem Grund ist der „Human-in-the-Loop“ kein Manko, sondern ein absolut notwendiges Design-Prinzip der kollaborativen Automatisierung, das zugleich auch zentrale regulatorische Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen adressiert. Der Mensch bleibt die Instanz, die Kontext liefert und Entscheidungen freigibt.
Von der Pflicht zur Kür: Wie aus Strategie echter KI-Erfolg wird
Klar ist: Isolierte KI-Projekte reichen nicht aus. Erfolgreiche KI-Transformation ist kein Sprint, sondern eine strategische Disziplin, die einem klaren Automatisierungs-Reifegradmodell folgt – von einfachen Bots bis hin zu autonomen Agenten.
Die „Pflicht“ ist das Fundament: eine klare KI-Strategie, saubere Konzepte und ein robuster Rahmen für Governance und Compliance. Dieses Fundament ist essenziell, aber nicht der entscheidende Wettbewerbsvorteil.
Dieser entsteht in der „Kür“. Genau hier, wo die Strategie auf die raue Wirklichkeit der IT-Landschaft und der Unternehmenskultur trifft, scheitern die meisten Initiativen. Diese Kür besteht aus zwei Disziplinen.
Technologische Kür
Die technologische Kür löst die Prozessintegration. Statt nur neue KI-Technologie einzukaufen, erfordert sie handwerkliche Exzellenz, um die richtige Intelligenz-Kaskade zu designen: So wird aus einer gescannten Rechnung (Computer Vision) extrahierter Text (NLP), der von einem Modell auf Betrug geprüft (Machine Learning) und schließlich verbucht wird (RPA). So werden Prozesse durch Cognitive Process Automation (CPA) von Grund auf neu gestaltet. Das bedeutet konkret: Eine eingehende Schadens-E-Mail wird nicht mehr nur an die richtige Abteilung weitergeleitet, sondern ihr Inhalt wird von der KI in Echtzeit ausgelesen, mit den Vertragsdaten abgeglichen und dem Sachbearbeiter direkt als prüffähiger Regulierungsvorschlag im Kernsystem vorgelegt. Das ist kognitive Prozessautomatisierung in der Praxis: Der Prozess denkt mit, statt nur Daten zu transportieren
Menschliche Kür
Die menschliche Kür überwindet die Hürde der Mensch-Maschine-Integration, indem sie kollaborative Automatisierung als gelebte Arbeitsphilosophie etabliert. Dies erfordert mehr als Schulungen: Es geht darum, gezielt Ängste abzubauen und eine Kultur der Augmentation zu schaffen, in der KI gezielt menschliche Fähigkeiten erweitert, statt sie zu ersetzen. Der Sachbearbeiter im Schadenmanagement prüft dann beispielsweise nicht mehr jeden Beleg von Hand, sondern agiert als Entscheider, der den von der KI erstellten Regulierungsvorschlag validiert und seine Expertise auf jene komplexen Fälle konzentriert, in denen menschliches Urteilsvermögen unersetzlich ist. Diese neue Form der Zusammenarbeit, bei der (mehrere selbstständige) KI-Agenten die Vorarbeit leisten und der Mensch als letzte Instanz entscheidet, wird auch als Agentic Automation bezeichnet. Der „Human-in-the-Loop“ wird hier nicht als Manko verstanden, sondern als intelligentes und regulatorisch notwendiges Design-Prinzip, das die Partnerschaft zwischen Mitarbeiter und KI erst wirklich erfolgreich macht.
Fazit: Die Kür entscheidet
Einen Plan zu haben, ist die Pflicht. Der Unterschied zur echten Wertschöpfungsmaschine liegt in der meisterhaften Umsetzung der Kür. Das Ziel dieser Reise ist dabei mehr als reine Prozessautomatisierung. Die Vision ist eine Organisation, in der die KI die Routine beherrscht – und der Mensch Freiraum gewinnt für das, was zählt: die empathische Begleitung von Kunden, die kreative Entwicklung neuer Produkte und die proaktive, persönliche Beratung. Der Weg dorthin führt über strategische Integration – für eine Versicherung, die intelligenter, effizienter und zugleich menschlicher ist. (tik)
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