Ein Artikel von Holger Dahl, Prokurist und Hauptabteilungsleiter Strategisches Marketing bei der Versicherungskammer Bayern, und Prof. Dr. Andreas Otterbach, Professor für BWL und Leadership an der Hochschule der Medien (Stuttgart)
Der Fachkräftemangel hat sich zu einer der größten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft entwickelt und insbesondere die Versicherungsbranche steht stark unter Druck. Die Versicherungsbranche steht vor besonderen Herausforderungen: Die fortschreitende Digitalisierung, standortübergreifende Teams, teils hohe Home-Office-Quoten, die eine hybride Form der Zusammenarbeit erfordern, steigende Anforderungen an Service- und Kundenorientierung sowie die Gewinnung und Bindung von Talenten mit oft sehr spezifischem Know-how im Bereich Underwriting, Aktuariat, Data und IT in einem insgesamt sehr umkämpften Arbeitsmarkt. Gerade auch die jüngere Generation an Arbeitnehmern hat zudem oft klare Vorstellungen an eine aus ihrer Sicht moderne Arbeitswelt: Hohe Flexibilität und standortunabhängiges Arbeiten mit flexiblen Arbeitszeiten erfordern insgesamt eine andere Form der Führung und Zusammenarbeit.
Gerade in der Versicherungsbranche ist der Mensch das wichtigste Kapital. Wer seine Mitarbeitenden nicht wertschätzt und aktiv fördert, verliert nicht nur seine Top-Talente und lässt große Entwicklungspotenziale brachliegen, sondern büßt auch die Nähe zu seinen Kunden ein. Wie stark engagierte Mitarbeitende die Kundenzufriedenheit positiv beeinflussen, ist schließlich vielfach belegt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Versicherungsunternehmen mehr tun müssen, als nur attraktive Gehaltsmodelle zu bieten. Eine Form der Führung, die deutlich stärker auf Wertschätzung basiert, könnte der Schlüssel sein.
Warum Wertschätzung in der Führung unverzichtbar ist
Die Basis der wertschätzenden Führung liegt im Verständnis, dass Mitarbeitende keine anonymen Produktionsfaktoren sind, sondern Menschen mit Bedürfnissen, Talenten und Potenzialen. Doch ohne Wertschätzung wird aus Führung schnell bloße Verwaltung. Es muss ein Bewusstsein entstehen, dass Führungskräfte die Kultur eines Unternehmens prägen – durch ihr Verhalten, ihre Kommunikation und ihre Haltung gegenüber ihren Teams.
In der Versicherungsbranche, die stark von Beratungs- und Vertriebsdienstleistungen geprägt ist, ist die Motivation der Mitarbeitenden von entscheidender Bedeutung. Kunden schätzen kompetente, empathische und engagierte Beratung. Doch was passiert, wenn Wertschätzung fehlt? Ein Mangel an Wertschätzung führt laut einer Gallup-Studie zu innerer Kündigung, sinkender Leistungsbereitschaft und steigenden Fehlzeiten. Allein die durch Unlust und mangelnde Motivation verursachten Krankheitstage belasten die deutsche Wirtschaft mit mehr als 100 Mrd. Euro pro Jahr. Hinzu kommt die zunehmende Fluktuation, die die Kosten für Rekrutierung und Einarbeitung in die Höhe treibt.
Kontinuierlich verschärfte Anforderungen in Bezug auf Regulatorik, Datenschutz, IT-Sicherheit sowie hohe Kundenerwartungen, eine deutlich gestiegene Zahl an Einreichungen bei den Krankenversicherern sowie die in der letzten Zeit verstärkt auftretenden Extremwetterereignisse setzen der ganzen Versicherungsbranche zu. Wenn bspw. in kurzer Zeit eine immense Zahl an Schäden reguliert werden muss, dann ist trotz aller Automatisierungen und dem Einsatz von KI zwingend eine große Anzahl an Über- und Extrastunden durch die hochspezialisierten Mitarbeitenden oft über Wochen und Monate hinweg zu bewältigen. Das laugt nicht nur körperlich aus, es zehrt mitunter auch an der Motivation und belastet die Arbeitszufriedenheit. Was zu wachsender Krankheitsquote in einem belastenden Teufelskreis führen kann, mit immer mehr Arbeit, die auf immer weniger Köpfe verteilt werden muss. An dessen Ende sind dann auch größere Kündigungsraten und damit die Abwanderung spezifischen Wissens nicht auszuschließen.
Die Versicherungskammer Bayern sieht in ihren Daten zur Mitarbeiterzufriedenheit einen klaren Zusammenhang: Die Mitarbeitenden, die eine hohe Zufriedenheit mit der Wertschätzung durch ihre Führungskräfte aufweisen sind resilienter und gerade in Zeiten hohen Arbeitsaufkommens deutlich weniger anfällig. Selbst in Phasen, in denen die Arbeitslast als zu hoch empfunden wird, bleiben rund Zwei Drittel der Mitarbeitenden zufrieden mit ihrer Arbeit – sofern die Wertschätzung durch die Führungskraft hoch ist, im andern Fall sinkt sie auf unter 30%. Auch wenn eine hohe Arbeitslast natürlich kein Dauerzustand sein soll, so zeigt das Beispiel dennoch, dass wertschätzende Führung ein Weg durch Belastungshochphasen darstellen kann, die auch zukünftig unvermeidlich sein werden.
Die sechs Erfolgsfaktoren einer wertschätzenden Führung
Um eine wertschätzende Führung in Unternehmen nachhaltig zu implementieren sind die folgenden Faktoren erfolgskritisch. Eine strukturierte Herangehensweise entlang dieser Elemente, die jeweils eine spezifische Funktion erfüllen, kann dabei als Leitfaden dienen:
1. Eigenwertschätzung
Führung beginnt bei der Selbstreflexion. Nur wer sich seiner eigenen Stärken und Schwächen bewusst ist, kann authentisch führen. Eigenwertschätzung ist die Grundlage für eine glaubwürdige und respektvolle Kommunikation mit den Mitarbeitenden. Führungskräfte in der Versicherungsbranche sollten ihre Rolle als Vorbilder im Umgang mit Kunden und Teams aktiv reflektieren. Hierbei können regelmäßige Messungen der Mitarbeiterzufriedenheit und 360-Grad-Feedback einen sehr wirkungsvollen Beitrag leisten.
2. Rundgang
Der regelmäßige Kontakt zur Belegschaft ist unverzichtbar. Ein Rundgang oder das aktive Zuhören bei Team-Meetings signalisiert Interesse und zeigt, dass die Arbeit der Mitarbeitenden wertgeschätzt wird. In Versicherungsunternehmen, in denen die Teams oft an verschiedenen Standorten arbeiten, sollten zusätzlich digitale Tools wie virtuelle Meetings hierfür genutzt werden, um präsent zu sein.
3. Fördern und Fordern
Eine wertschätzende Führung balanciert zwischen der Entwicklung von Potenzialen und dem Setzen anspruchsvoller Ziele. Besonders im Vertrieb und in der Kundenberatung ist es wichtig, Mitarbeitende gezielt zu schulen und ihre Entwicklung individuell zu begleiten. Hierbei können moderne Weiterbildungsplattformen und Coachings eine wichtige Rolle spielen.
4. Offenheit und Kommunikation
Transparente Informationsweitergabe schafft Sicherheit und Vertrauen. Mitarbeitende, die in Entscheidungen einbezogen werden, entwickeln ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl und sind motivierter. Versicherungsunternehmen sollten einen offenen Dialog zu strategischen Entscheidungen und neuen Technologien, wie dem Einsatz von KI im Kundenservice, etablieren und die Mitarbeitenden so nicht nur aktiv in Entscheidungen einbeziehen, sondern hierüber auch deren große Wissensbasis nutzen.
5. Lob
Lob ist ein starker Motivationsfaktor, wenn es ehrlich und konkret ist. Ein einfaches „Gut gemacht!“ reicht nicht aus – es sollte klar erkennbar sein, worauf sich das Lob bezieht. Beispielsweise: „Ihre innovative Idee für den neuen Kundenserviceprozess hat entscheidend dazu beigetragen, unser Telefonaufkommen zu reduzieren.“
6. Gemeinsamkeit
Hochleistungsteams entstehen, wenn alle Mitglieder ein gemeinsames Ziel verfolgen. Wertschätzung innerhalb des Teams fördert Zusammenarbeit und Kreativität. Das Feiern von gemeinsamen Erfolgen, z. B. bei der Einführung neuer Produkte und Services oder dem Erreichen relevanter Ziele, sollte den Zusammenhalt stärken und die Motivation für die nächsten Aufgaben hochhalten. Wertschätzung zeigt sich nicht nur in Worten, sondern vor allem im Handeln. Ob Lob, Kommunikation oder Förderung – entscheidend ist, dass es ernst gemeint ist.
Fazit: Wertschätzung als Wettbewerbsvorteil
Die hier dargestellten Faktoren sind angelehnt an das von Andreas Otterbach und Corinna Wenig entwickelte ERFOLG-Modell, das praxisnah zeigt, wie Unternehmen Wertschätzung als strategischen Erfolgsfaktor etablieren können – auch und gerade in der Versicherungswirtschaft, denn wertschätzende Führung ist kein Selbstzweck, sondern eine strategische Notwendigkeit in Zeiten des Fachkräftemangels und der sich ändernden Arbeitswelt. In der Versicherungskammer Bayern gibt es viele Best-Practice-Einheiten, die den Prinzipien des ERFOLG-Modell folgen und hohe Arbeitszufriedenheiten und Mitarbeiterbindung aufgebaut haben. Diese Einheiten kombinieren wertschätzende Führung, geeignete Teamzusammensetzung und sind stark in Bezug auf die sechs Elemente des ERFOLG-Modells.
Die Umsetzung erfordert Zeit, Engagement und Geduld. Doch die Ergebnisse sprechen für sich: Weniger Fehlzeiten, geringere Fluktuation, höhere Innovationskraft und eine gesteigerte Attraktivität als Arbeitgeber. Hidden Champions zeigen, dass eine solche Kultur nicht nur möglich, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich ist.
Nachgefragt bei ...
Prof. Dr. Andreas Otterbach, Professor für Betriebswirtschaft und Leadership an der Hochschule der Medien in Stuttgart, und Holger Dahl, Hauptabteilungsleiter für das Strategische Marketing bei Konzern Versicherungskammer
Wie wird eine Führungskraft zur Führungskraft? Ist es angeborenes Talent, praktische Übung oder ein bisschen von beidem?
Prof. Dr. Andreas Otterbach Sowohl angeborenes Talent als auch praktische Übung spielen eine Rolle. Natürliche Führungsqualitäten und die Fähigkeit, diese durch Erfahrung und gezielte Entwicklung zu verfeinern, sind wichtig. Selbstwertschätzung und Selbstreflexion sind entscheidend für eine authentische und glaubwürdige Führung.
Was bedeutet denn „wertschätzende Führung“ genau? Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Holger Dahl Wertschätzende Führung erkennt die individuellen Bedürfnisse, Talente und Potenziale der Mitarbeitenden an. Sie zeigt sich in gezieltem Lob, wie etwa für eingebrachte Ideen und Verbesserungen, in echtem Interesse und aktivem Zuhören bei Rundgängen sowie in der Förderung individueller Entwicklungen und der Einbeziehung in Entscheidungen.
Kritisch nachgefragt: Kann man es mit der wertschätzenden Führung auch übertreiben? Falls ja, welche Folgen hätte das dann?
HD Ja, übertriebene Wertschätzung kann unglaubwürdig wirken und echte Leistung oder Fehler überdecken. Dann wird echte Leistung nicht mehr erkannt und Kritik bleibt aus, was die Innovationskraft und Verbesserungspotenziale hemmt.
Wo stehen im Ranking der Mitarbeitenden zur Motivation denn Gehalt, Führung und weitere Faktoren?
AO Gehalt sichert Grundzufriedenheit, während gute Führung Motivation und Bindung stärkt. Die Umsetzung der Führung inspiriert und verstärkt die Unternehmensbindung. Faktoren wie flexible Arbeitszeiten, Anerkennung und Entwicklungsmöglichkeiten sind individuell bedeutsam. Jüngere Generationen schätzen besonders Flexibilität und ortsunabhängiges Arbeiten sowie ein Umfeld, das berufliche Ziele und persönliches Wachstum fördert.
Sie beschreiben einen Teufelskreis von immer mehr Arbeit, die auf wenige verteilt werden muss, was am Ende zu mehr Kündigungen führen kann. Wie kommen Unternehmen aus diesem Teufelskreis heraus?
AO Unternehmen unterbrechen mit wertschätzender Führung diesen Teufelskreis. Transparente Kommunikation, Unterstützung bei hoher Arbeitsbelastung, Anerkennung und ausgewogene Arbeitsverteilung sind entscheidend, ebenso wie Weiterentwicklungsmöglichkeiten.
Und wie können Versicherer Mitarbeitende aktiv in Entscheidungen einbeziehen, wie Sie vorschlagen? Bedeutet das, z. B. demokratisch zu entscheiden? Und bis zu welchem „Level“ von Entscheidungen kann dies durchgeführt werden?
HD Versicherer sollten offenen Dialog und Feedback fördern, um Mitarbeitende in Entscheidungen einzubeziehen. Während das Management größere strategische Entscheidungen trifft, können Mitarbeitende bei operativen Fragen mitwirken. Transparente Kommunikation stärkt Zugehörigkeit und Wertschätzung, ohne jede Entscheidung demokratisch zu gestalten.
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