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14. Juni 2022
Nachhaltigkeit – Eine Betrachtung aus aktuarieller Perspektive

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Businessman using binoculars looking direction.

Nachhaltigkeit – Eine Betrachtung aus aktuarieller Perspektive

Die Nachhaltigkeitswende in der Versicherungswirtschaft basiert u. a. auf Entwicklung und Tarifierung nachhaltiger Versicherungslösungen. Wie werden Nachhaltigkeitsrisiken in die Produktentwicklung integriert und wo stößt die Tarifierung an Grenzen? Nachgefragt beim Beratungsunternehmen MSK.

Interview mit Florian Bohl, aktuarieller Berater bei Meyerthole Siems Kohlruss (MSK), und Onnen Siems, Mitgründer und Geschäftsführer von MSK. Das Interview führte Dr. Alexander Ströhl.
Herr Siems, Herr Bohl, was bedeutet Nachhaltigkeit in der Aktuarbranche?

Florian Bohl Eine einheitliche Definition für Nachhaltigkeit gibt es auch in der Aktuarbranche nicht. Für Aktuare hängt die Betrachtung von der konkreten Fragestellung ab. Allgemein orientiert sich die Aktuarbranche wie viele andere Akteure in der Versicherungswirtschaft an den ESG-Nachhaltigkeitskriterien.

Onnen Siems Der Übergang hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft stellt einen weiteren Schwerpunkt dar – also weniger die Frage, was ist eigentlich Nachhaltigkeit, sondern der ihr zugrunde liegende Prozess. Denn daraus entstehen neue Risiken – sogenannte transitorische Risiken – wie das temporär größere Risiko bei der Sicherstellung der Energieversorgung. Die Versicherer sind durch die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungs­wesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und durch die BaFin dazu aufgerufen, solche Fragestellungen zu bewerten. Der Umstellungsprozess an sich birgt also Risiken; sicherlich auch Chancen, aber für die Versicherungswirtschaft stehen die Risiken naturgemäß im Vordergrund.

Also: Neues Risiko, neues Versicherungsgeschäft?

OS Neue nachhaltigkeitsbezogene Risiken, die es zu bewerten und zu versichern gilt, generieren konkret neues Versicherungsgeschäft, ja. Wer risikodifferenzierende Merkmale frühzeitiger als der Wettbewerb identifiziert und anspricht, kann Marktanteile ausbauen und zumindest temporär einen Wettbewerbsvorteil genießen. Wir ermuntern unsere Mandanten auch dazu, genau dies zu tun.

Wie betrachten denn Sie als Aktuare Nachhaltigkeit?

FB Als Aktuar betrachte ich Nachhaltigkeit primär aus einer Risiko­perspektive. Am Beispiel nachhaltiger Verhaltensweisen könnte eine typische Fragestellung sein: Ist ein sich nachhaltig verhaltender Kunde ein besseres oder ein schlechteres Risiko? Bezogen auf Versicherungs­lösungen wiederum würde ein besseres Risiko Rabatt, ein schlechteres Risiko einen Zuschlag erhalten. Auch wenn der sich nachhaltig verhaltende Kunde nicht als besseres Risiko identifiziert wurde, könnte der Versicherer aber strategisch entscheiden, einen Abschlag zu geben.

OS Aktuare sind den versicherungsmathematischen Grundsätzen verpflichtet. Aktuare betrachten Nachhaltigkeit daher vorurteilsfrei. In diesem Sinne ist ein sich nachhaltig verhaltender Kunde nicht automatisch ein besseres Risiko.

Zum Beispiel?

OS Regelmäßiges Fahrradfahren gilt in der Unfallversicherung als schlechter Risikofaktor, weil Unfall- und Verletzungsrisiko aus mehreren Gründen deutlich höher sind als beim Autofahren; obwohl das Fahrradfahren per se ein klima- und umweltfreundliches – ergo nachhaltiges – Verhalten ist.