AssCompact suche
Home
Assekuranz
14. Juni 2022
Nachhaltigkeit – Eine Betrachtung aus aktuarieller Perspektive

4 / 4

Businessman using binoculars looking direction.

Nachhaltigkeit – Eine Betrachtung aus aktuarieller Perspektive

Welche weiteren Themen beschäftigen Sie als Aktuare im Besonderen und die Branche generell?

OS Ein anderes wichtiges Thema, was auch ganz oben auf der Agenda steht, ist aktuell die Inflation. An sich ist das keine neue Aufgabe für uns Aktuare, aber in der gegenwärtigen Ausprägung gewinnt die Inflationsbetrachtung an Gewicht. Zumal der Zins – zumindest noch – nicht entsprechend mit ansteigt. Davon sind alle Bereiche, also Lebensversicherung, Krankenversicherung und auch die Unfallversicherung betroffen. Besondere Beachtung gilt hier der Wohngebäudeversicherung bzw. der Schadenregulierung. Die durchschnittlichen Schäden steigen infolge des gleitenden Neuwertfaktors stark an. Der Baukostenindex hält gar nicht mehr Schritt mit der Kalkulation. Diese Zusammenhänge muss man sehr präzise analysieren. Dann das Thema Cyber. Stark unterstützt durch den Krieg gegen die Ukraine steigen hier die Preise. Die Marktteilnehmer sind bei Cyber sichtlich verunsichert, denn niemand kann kalkulieren, wie sich die Cyberangriffe entwickeln werden. Heißes Eisen dabei ist auch die Kriegsausschlussklausel.

Inwiefern entsteht mit Nachhaltigkeit ein neues Reputationsrisiko für die Branche?

FB Im Bereich des Risikomanagements spielt das Reputationsrisiko eine große Rolle. Aber auch bei der Tarifierung bekommt die Berücksichtigung von Reputationsrisiken eine Bedeutung. Beispielsweise stellt sich beim Underwriting zunehmend die Frage: Welches nicht-nachhaltige Risiko zeichnet ein Versicherer überhaupt noch?

OS Die Versicherung von Öltanklastern ist ein anschauliches Beispiel, denn hierbei handelt es sich um einen nicht-nachhaltigen Versicherungsschutz. Wenn der Versicherer dieses Risiko zeichnet, gilt dann nur das Produkt oder doch bereits der Kfz-Bereich des Versicherers als nicht nachhaltig? Oder gilt sogar die vollständige Gewerbesparte oder möglicherweise der Versicherer als Ganzes als nicht nachhaltig? Ähnlich verhält es sich bei Wohngebäudeversicherungen. Ein Versicherer, der eine Immobilie mit Öltank versichert, ist dieser Versicherer dann per se nicht mehr nachhaltig? Und gilt dasselbe für einen Versicherer, der Kfz mit Verbrennungsmotor absichert? Das sind nur ein paar Knackpunkte, die zeigen, dass die Handhabe einfach noch zu wenig ausdifferenziert ist. Ich befürchte gerade auch beim Thema Nachhaltigkeit, dass vieles, was vielleicht politisch gut gemeint ist, bei näherer Betrachtung nicht konsequent genug durchgezogen werden kann.

Ist die Branche denn gegen solche Reputationsrisiken gewappnet?

OS Versicherer müssen entsprechend der Solvency-Bilanz Stressszenarien durchspielen, die etwa Folge eines Reputationsschadens sein können. Bei Nachhaltigkeit besteht ein großes Risiko für die Branche, was das Thema Greenwashing betrifft. Insbesondere Versicherer sollten nicht nur nachhaltige Produkte entwickeln, sondern parallel dazu ihre internen Prozesse ernsthaft auf Nachhaltigkeit umstellen. Andernfalls kann hier meiner Meinung nach ein wirklich großer Reputationsschaden entstehen. Aber auch vom Thema Cyber können große Vertrauensschäden ausgehen, weil Versicherern schon allein als Teil der kritischen Infrastruktur erheblich davon betroffen sein können. Auch auf Seiten des Vertriebs kann Cyber ein Reputationsrisiko darstellen. Viele Personen, die im Vertrieb arbeiten, haben bei Cyber Berührungsängste. Cyber ist ein komplexes, technisches Thema, die Beratung ist äußerst umfangreich. Da entstehen schnell Haftungsrisiken bei der Beratung. Dieses Risiko ist sicherlich auch größer als dasjenige einer Beratung über nachhaltige Versicherungsprodukte.

Und zum Schluss: Welche Aufgaben bringt die Zukunft bei Nachhaltigkeit?

FB Die Nachfrage seitens des Kunden ist noch nicht allzu groß. Es gibt auch nur wenige wirklich überzeugend nachhaltige Produkte im Markt. Wenn das Angebot größer wäre und das mehr beworben würde, würde vielleicht auch die Nachfrage steigen. Aber da belauern sich die Versicherer aktuell untereinander und warten weitere Schritte eher ab. Unabhängig davon sehe ich eine verbesserte Naturgefahrenmodellierung gemeinsam mit der Analyse sich verändernder Versicherungsbedarfe als große Aufgabe.

OS Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit. Was heute als richtig gilt, gilt morgen vielleicht nicht mehr als richtig. Gerade auch beim Thema Nachhaltigkeit, wie an der Aufnahme von Atomkraft und Erdgas in die EU-Taxonomie zu beobachten war. Ein ganzheitlicher Blick auf Nachhaltigkeit ist daher bei allen Akteuren der Versicherungswirtschaft der entscheidende Erfolgsfaktor!

Über Meyerthole Siems Kohlruss

Das aktuarielle Beratungsunternehmen Meyerthole Siems Kohlruss (MSK) begleitet Versicherungsunternehmen bei strategischen Entscheidungen und operativen Prozessen im Bereich der Schaden- und Unfallversicherung. Tätigkeits­schwerpunkte beim Thema Nachhaltigkeit in der Kompositversicherung sind Produktentwickung und Pricing durch Marktbeobachtung, Kalkulation neuer Leistungen, Klimawandel im Pricing und die Bewertung nachhaltiger Versicherungs­nehmer.

Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 05/2022, S. 34 ff., und in unserem ePaper.

Bild: © suphakit73 – stock.adobe.com